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An der Grenze: eine Hilfsaktion

Menschen auf der Flucht: "I think we have no choice"
Drei Personen mit Gepäck warten an der Grenze darauf zu erfahren, ob und wie es weitergeht
#ukraine #stopwar
    © Kristina Koch

      Menschen allerorts sind geschockt, seit am 24. Februar der russische Präsident den kriegerischen Überfall des Nachbarlandes befohlen hat. Die Kämpfe dauern an, die Ohnmacht ob der Unmenschlichkeit dieses Angriffes nimmt zu.
      Hier lassen wir diejenigen zu Wort kommen, die sich zusammengefunden haben, um zu helfen.

      Der folgende Bericht stammt von der Kölnerin Kristina Koch, die am 28. Februar in Begleitung eines Freundes mit einem Transporter losgefahren ist, um im Grenzgebiet Unterstützung zu leisten. Diese Fahrt und weitere wurden und werden unterstützt von der Kulturkirche Köln und Willkommen in Nippes e. V.

      An der Grenze Slowakei-Ukraine im März.
      Etwa hundert Kilometer vor der Grenze zur Ukraine kommen uns die ersten vollen Busse und Pkw mit ukrainischen Passagier:innen entgegen. Dazwischen Militärautos.
      Am Grenzübergang Vyšné Nemecké warten Viele, die Verwandte, Freund:innen oder Fremde abholen wollen. Das kann dauern.

       

      Denis aus Donezk berichtet, dass er mit seiner Familie zweieinhalb Tage im Auto auf der anderen Seite der Grenze wartete, bis er beschloss zu parken, den Autoschlüssel wegzuwerfen und zu Fuß weiterzugehen. Wahrscheinlich die leichteste der tausend Entscheidungen, die er treffen musste. Dann weitere fünfzehn Stunden Wartezeit bei Minusgraden. Am slowakischen Grenzübergang finden die Menschen einen Platz mit Zelt zum Ausruhen, Stände mit Kaffee und Suppe, Kleidung und Kindersitzen, Sim-Karten, medizinische Notversorgung. Mission Lifeline und die Malteser sind da. Und zahlreiche Soldat:innen und Grenzpolizist:innen. Trotzdem herrscht eine Stille, die sich aus Schock und Traurigkeit speist.

       

      Bärtiger Mann hält Pappschild mit Fahrangebot in polnische und deutsche Städte

      Autos überqueren die Grenze sowie Fußgänger:innen mit Rucksäcken und Rollkoffern. Ein altes Ehepaar stolpert weinend einem Helfer hinterher, ihre Taschentücher fallen auf den Boden. Der Helfer drückt sie in einen Bus, wo sie fassungslos aus dem Fenster starren. Eine Frau hockt auf der Straße, ihr kleiner Sohn drückt eine Katze an sich. Wir basteln eine Box für das Tier und legen Katzenfutter dazu.
      Mein Begleiter, 2015 aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet, weiß, wie es den Menschen geht, die gerade aus dem Krieg kommen. Er erwähnt die übermüdeten, schockgeweiteten Augen.
      Ein Mann aus Polen hält ein Schild hoch, auf dem er Fahrten nach Prag, Dresden und Warschau anbietet. 8.000 Kilometer sei er seit Kriegsbeginn gefahren, immer hin und her. Er erhält von uns eine Kiste mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln für die Passagier:innen.

       

      Denis’ Familie wurde mit vierzig Anderen in einer Schule untergebracht, 30 km entfernt von der Grenze. Dort ruhen sie sich nun aus. Wir halten Kontakt mit der Familie und wollen sie in ein paar Tagen nach Berlin bringen. Sie kennen dort niemanden. Denis ist IT-Entwickler und hofft auf einen Job. Unsere Freundin in Berlin schraubt derweil an einer Unterkunft für die Fünf.
      Unseren Transporter mit den in Deutschland gesammelten Spenden fahren wir in ein grenznahes Wohngebiet. Dort haben zwei freiwillige Helferinnen aus Deutschland und Estland eine Art Lager errichtet. Der Rasen ist plattgefahren von den Transportern, die seit Tagen durch den Garten rollen.

       

      Fünf Cent zu viel

       

      Wir laden unsere Sachen in einen Lkw. Die Fahrer:innen sind Freiwillige aus der Slowakei, die die Güter täglich zu einem ukrainischen Krankenhaus bringen. Dort wird alles gebraucht. Bald ist auch nichts mehr zu essen da.
      Im Städtchen Michalovce kaufen wir ein, um den Wagen wieder zu füllen. Die einschlägigen deutschen Supermärkte reihen sich aneinander. Im Drogeriemarkt lautet die Rechnung am Ende 1.400,05 Euro; wir haben alle Einkaufswagen in Gebrauch.
      Wir haben nur Scheine und bitten um den Erlass der fünf Cent. Nein, das geht nicht.
      Wir fügen hinzu, dass der Einkauf für die Ukraine ist. Keine Chance.
      Seit Corona läuft es in Michalovce auch mies, nicht bei jeder:m ist Platz für Empathie.

       

      Über Messenger-Gruppen kommen die Notrufe, Bedarfe und Infos, und über Leute, die man zufällig trifft.
      „Wer kann eine Frau mit Baby an der Grenze abholen?“
      „Wir haben drei freie Plätze nach Leipzig.“
      „Transport nach München und Katowice gesucht!“
      Infos über neue Zollbestimmungen. Über die Lage an den Grenzübergängen. Ständig upgedatete Listen mit benötigten Sachen.

       

      Dann wird organisiert. Alle in dieser Blase reagieren schnell und zielgerichtet. Genau wie die tollen Leute zuhause, die uns unterstützen. Über jede Überweisung freuen wir uns genauso wie über jedes Angebot, Menschen aufzunehmen.
      Ein Helfer aus Kroatien braucht Hilfe beim Einrichten eines neuen Notlagers. Wir kaufen 15 aufblasbare Betten, dazu Kissen, Pumpen und Schlafsäcke und handeln einen Rabatt aus. Seine anderen Wünsche, Helme und schusssichere Westen, können wir leider nicht erfüllen, denn diese gibt es hier nicht.
      Anfrage: Eine Familie aus Kyjiw sitzt im Zug hierher, mit dabei ein vor fünf Tagen geborenes Baby. Sie brauchen einen Transport und eine Unterkunft in Köln. Da ein Radiosender von unserer Tour berichtet, nutze ich das nächste Gespräch, um dafür aufzurufen. Sofort kommen Angebote für Unterkünfte rein, von Freund:innen und Hörer:innen. Wahnsinnig nette E-Mails von Menschen, die entweder zusammenrücken wollen oder ganze Häuser anbieten.

       

      Neugeboren in Düren

       

      Zwei Tage später zieht die Familie mit dem Baby bei einer Familie in Düren ein, dort wird sogar Ukrainisch gesprochen. Ihren Hund mussten sie in Kyjiw lassen, kein Platz mehr im Zug. Im Chaos am Bahnhof drückten sie jemandem die Hundeleine in die Hand. Sie erinnern sich nicht an die Person, so schnell musste es gehen. Wunder: Eine Woche später wird er über eine Social-Media-Gruppe gefunden und von einem Verwandten gesichert.
      Die Idee, die uns aus Deutschland erreicht, man solle nicht einfach so herkommen, weil bereits genug Helfer:innen da seien, erscheint uns an diesem Ort nicht angemessen. Allerdings sollte man sich vorher vernetzen und wissen, wo man und was gebraucht wird.

      In einer Halle werden Hilfsgüter von einem Transporter in einen Lkw gepackt, um Menschen in der Ukraine zu unterstützen

       

      Gegenüber der Schule, in der Denis mit seiner Familie wartet, parkt ein älterer 40-Tonner von DHL. Die slowakischen und ukrainischen Fahrer:innen stehen in der Kälte herum und warten auf Lieferungen von Leuten wie uns. Es ist schon zehn Uhr abends, diese Leute sind rund um die Uhr hier. Sobald ein Transport eintrifft, kommen die aus der Ukraine geflüchteten Leute rüber, bilden eine Kette und laden ein. Denis, seine Frau und Kinder machen auch mit.
      Wir laden unsere Fracht in den Lkw.

       

       

      Unterkunft gefunden, Familie in Sicherheit

       

      In einer Messenger-Gruppe bietet eine Frau eine Fahrt nach Berlin für den nächsten Morgen an. So wären Denis und Familie eher dort. Sie sind einverstanden und wir verabschieden uns. Am folgenden Abend informiert uns Denis, sie seien gut angekommen. Später schickt die Fahrerin Bilder vom gemeinsamen Zoobesuch, sie wird sich weiter um die ukrainische Familie kümmern.
      Gutes Teamwork. Schon zwei Familien untergebracht. Und noch sechs freie Plätze im Auto. Mein irakischer Freund zeigt keinerlei Missgunst, dass den ukrainischen Menschen mehr Türen geöffnet werden als ihm und den Geflüchteten damals.

       

      Am nächsten Tag wieder zum Ladeplatz an der Schule. Auf der Suche nach Übersetzung lernen wir Kateryna kennen. Sie ist aus Kyjiw geflohen, mit zwei Kindern, ihr Mann musste dort bleiben. Bei ihr ist Ana mit ihrer kleinen Tochter und Oksana plus Katze.
      Sie haben noch nicht realisiert, was passiert ist. Als wir anbieten, sie nach Deutschland mitzunehmen, zucken sie hilflos mit den Schultern. Sie könne noch nicht denken, erklärt Kateryna. Und sich noch nicht vorstellen, die geografische Nähe zu ihrem Land, ihrem Mann und ihrer Mutter aufzugeben.

       

      Die Nachrichten sind das Schonprogramm

       

      Die Betreuer:innen bringen Kuchen und wir sprechen mit allen Bewohner:innen. Manche wollen zu Freund:innen in Italien, zu Verwandten nach Polen. Ihre Videos aus den bombardierten Städten sind um ein Vielfaches schrecklicher als alles, was in den Nachrichten zu sehen ist. Die Wirklichkeit ist Blut, abgetrennte Körperteile.
      Ein Mann erzählt immer wieder, wie sein Nachbar und er Wasser holen wollten, als eine Bombe vor ihnen einschlug und den Kopf des Freundes abriss.
      Immer wieder.
      Mein Begleiter hört ihm ewig zu, dann umarmen sie sich.
      Kateryna speichert unsere Nummern.

       

      Wir klappern die Apotheken und Supermärkte ab und füllen den Wagen erneut. Insgesamt können wir in diesen Tagen für über 6.500 Euro Medikamente, Lebensmittel und Anderes besorgen.
      Wir beladen den Truck, organisieren, treffen neu angekommene Menschen, übernehmen Erledigungen. Ich verfolge zeitgleich die Einsätze der ehrenamtlichen Hilfsorganisationen zuhause: Es geht um die Evakuierung von Kranken, Hochschwangeren oder Rollstuhlfahrer:innen, um Generatoren für Kinder, die Atemgeräte brauchen, die Bereitstellung von Riesenmengen an Hilfsgütern – und viele andere große Nöte, die gute Koordination erfordern. Alle sind maximal bereit und pausenlos aktiv.

       

      Mit Katze, Kind und Kegel nach Köln

       

      „I think we have no choice“, sagt Kateryna leise am Telefon.
      Am nächsten Morgen besorgen wir eine Katzentransportbox und Proviant für die Reise nach Köln. Wir verlassen das Grenzgebiet mit drei Frauen, einem 15-jährigen Mädchen, zwei fünfjährigen Kindern und ein wenig Gepäck. Lange, stille Fahrt durch die slowakische Tristesse und die verschneite Tatra, Übernachtung bei Prag.

       

      Ein paar Tage später. Unsere neuen Freund:innen sind gut untergebracht, die Gastgeber:innen sind tolle Menschen, die sich auch um alles Weitere kümmern wollen. Papierkram, Sprachschulen, Kindergarten.
      Kateryna und Ana warten jeden Tag auf Lebenszeichen von ihren Männern in Kyjiw. Oksana lernt Deutsch im Alleingang.
      Ein Kollege ist derweil mit drei weiteren Transportern unterwegs nach Vyšné Nemecké, und wir planen die nächste Fahrt.

       

      Geldspenden für die nächste Fahrt sind möglich via
      paypal: kk@kristina-koch.com
      oder
      Überweisung: Förderverein Willkommen in Nippes e. V.
      Volksbank Köln Bonn eG
      IBAN: DE97 3806 0186 4921 0590 14
      BIC: GENODED1BRS
      Verwendungszweck: Transport Ukraine KK
      Zuwendungsbestätigung möglich

       

      alle Fotos: © Kristina Koch